SPIEGEL: Aber Sie wollten die DDR damals doch gar nicht beenden.
Platzeck: Das stimmt. Viele von uns wollten damals keine Vereinigung, wir wollten die DDR verändern. Schließlich war es das Land, in dem ich groß geworden bin, in dem ich gelebt habe, das ich kannte, in dem ich zu Hause war. Dieses Land wollte ich ändern. Ich wollte es demokratischer machen, freier, offener, bunter, lebenswerter. Nur: So wie die DDR war, wollte ich sie nicht und wollten Millionen sie nicht.
SPIEGEL: Auch 20 Jahre später entdecken Sie nichts an diesem Land, auf das Sie stolz waren?
Platzeck: Ich glaube, die Ostdeutschen können sehr stolz auf das sein, was sie in den letzten 20 Jahren geleistet haben. Da haben sie allen Grund, selbstbewusst in die Welt zu gehen. Dass man im Rückblick natürlich auch Dinge findet, die in der DDR-Zeit sinnvoll und gut ausgedacht waren und die im Übrigen auch noch funktionierten, ist klar. Alles andere wäre doch verrückt. Und ich hätte mir gewünscht, wir hätten uns damals die Zeit und die Freiheit genommen, genauer hinzusehen, was erhaltenswert war und was nicht.
SPIEGEL: Was war so gut, dass man es besser erhalten hätte?
Platzeck: Ein Beispiel: Wenn wir jetzt nach 15 Jahren Verhandlungen mühsam in die Reformgesetze im Gesundheitswesen hineinformulieren, dass es ja wohl sinnvoll und kostendämpfend sein kann, wenn mehrere Ärzte in einem Haus sitzen, wenn sie Geräte gemeinsam nutzen und nicht jeder die volle Investition vornimmt, dann frage ich mich natürlich: Warum hat man bei den DDR-Polikliniken nicht genauer hingeschaut?
SPIEGEL: Und? Warum hat man nicht?
Platzeck: Weil damals eben niemand gefragt hat: Waren die in der DDR nur doof, oder haben sie sich nicht auch Dinge ausgedacht, die selbst unter anderen Rahmenbedingungen Bestand habenkönnten? Wolfgang Schäuble hat damals als Innenminister gesagt: "Liebe Leute, es handelt sich um einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, nicht um die umgekehrte Veranstaltung. Wir tun alles für euch. Aber hier findet nicht die Vereinigung zweier gleicher Staaten statt."
SPIEGEL: Schäuble hat die Dinge nur beim Namen genannt.
Platzeck: Das mag sein, aber man hätte die Menschen besser mitnehmen können, wenn es nicht diesen Totalschnitt gegeben hätte. Wenn man nicht gesagt hätte: Im Prinzip wissen wir alles besser. Das hat ja die Entfremdung mit sich gebracht, die Jens Reich mit dem schönen Satz beschrieben hat, eine DDR-Identität sei erst nach dem Tod der DDR entstanden.
SPIEGEL: Die Frage, ob Totalschnitt oder nicht, hängt auch damit zusammen, wie man das alte System bewertet. Ihr Kollege und Parteifreund Erwin Sellering aus Schwerin hat für heftige Reaktionen gesorgt, als er verneinte, dass die DDR ein totaler Unrechtsstaat gewesen sei.
Platzeck: Falls Sie es noch nicht gemerkt haben sollten: Es sind diese Schwarz-Weiß- Debatten, die die Leute hier kirre machen.
SPIEGEL: Sie meinen, diese Auseinandersetzung interessiert die Menschen nicht?
Platzeck: Es macht sie kirre, denn diese Debatte betrifft nicht ihre Lebenserfahrungen, sie betrifft nicht ihre Lebenswelten und auch nicht ihre Lebenssicht. Ganz viele Ostdeutsche sind entnervt, weil es immer nur darum geht: Warst du dafür oder dagegen? Bist du Täter oder Opfer? Das ist doch die unselige Verkürzung, die mitschwingt, wenn Ost und West aufeinandertreffen. Nehmt doch endlich mal zur Kenntnis, dass sehr, sehr viele Ostdeutsche sagen: Frag mich doch mal was anderes!
SPIEGEL: Haben Sie das auch Ihrem Kollegen Sellering so gesagt? Er war es schließlich, der die Debatte losgetreten hat.
Platzeck: Er ist gefragt worden. Ich werde auch fast jeden Tag von Journalisten gefragt, aber eben nur von denen. Und jetzt ist diese Debatte seit Wochen in der Presselandschaft. Da darf man sich nicht wundern, wenn die Reserviertheit der Ostdeutschen wächst.
SPIEGEL: Sie glauben also, dass dieser Streit die Ost-Nostalgie fördert?
Platzeck: Ja, klar! Ich spüre das. Ich bin jeden Tag auf Veranstaltungen, da kriegt man das Abend für Abend serviert.
SPIEGEL: Das heißt also: Je öfter über das DDR-Unrechtsregime geredet wird, desto besser wird die Meinung darüber?
Platzeck: Nein, aber die Leute haben diese Verkürzung satt. Die DDR ist seit 1990 mausetot . Wir müssen sie nicht noch mal beerdigen. Die Menschen in diesem Landstrich zwischen Rostock und Suhl beschäftigt etwas anderes: Was haben wir in den letzten 20 Jahren geleistet? Das war etwas Herausragendes. Damit wollen sie sich identifizieren. Darüber wollen sie reden, und das wollen sie anerkannt haben, bei aller Hilfe, die unbestritten dazugekommen ist. Und was wird ausschließlich aufgeblasen? Ob es hier früher mal einen Unrechtsstaat gab. Es ist doch klar, dass diese Diskussion die Leute anwidert.
SPIEGEL: Wir verstehen Ihre Aufregung nicht ganz. Sie selbst veröffentlichen in dieser Woche ein Buch, in dem Sie sich auch mit Ihrer Zeit in der DDR beschäftigen*.
Platzeck: Ich habe dieses Buch geschrieben, weil mich die einseitige Fragestellung nervt. Wenn die DDR ein Rechtsstaat gewesen wäre, dann hätten nicht Hunderttausende auf der Straße "Wir sind das Volk" gerufen. Das muss man nicht 100mal wiederholen. Schwerpunkt des Buchs sind die letzten 20 Jahre. Da haben wir eine komplette Deindustrialisierung überstanden und völlig neue Strukturen aufgebaut. Die Welt wird sich auch in den nächsten 20 Jahren rapide verändern, und auch diese Etappe werden wir hinkriegen. Darum geht es mir und nicht um pausenlose DDR-Betrachtung.
SPIEGEL: In Westdeutschland ist die Debatte um die NS-Vergangenheit auch nach etwa 20 Jahren hochgekocht.
Platzeck: Ich sehe da schon erhebliche Unterschiede, wenn ich das mal mit aller Vorsicht anmerken darf. Wir haben schon 1990, in der letzten freien Volkskammer, Vergangenheitsaufarbeitung anders aufgefasst, als es damals aus Gründen, die ich nicht bewerten will, nach dem Zweiten Weltkrieg passiert ist. Dass man offen und auch offensiv darüber redet, ist richtig, aber mir geht es darum, dass das nicht die Sonne ist, um die alles kreist.
SPIEGEL: Ist die politische Aufarbeitung 20 Jahre nach dem Ende der DDR für Sie also abgeschlossen?
Platzeck: Ich glaube, so etwas wird nie abgeschlossen sein. Wir leben ja alle noch. Ich bin immer gegen den sogenannten Schlussstrich gewesen, weil Aufarbeitung nie mit einem Schlussstrich versehen sein kann. Und ich habe es auch beim Buchschreiben gemerkt, dass für die Antwort auf manche Fragen die Zeit noch zu kurz ist, die seitdem vergangen ist. Wir sind schließlich Menschen, und da ist im Kopf nichts objektiv, unwiderruflich oder auf ewig klar. Manches werden die Historiker erst in 20 Jahren aufarbeiten können, weil es wahrscheinlich den zeitlichen Abstand braucht.
SPIEGEL: Sehen Sie selbst inzwischen schärfer auf die DDR als damals?
Platzeck: Für mich ist mittlerweile klar, dass es dieser Staat in 40 Jahren geschafft hat, jedwede Substanz zu verbrauchen und damit ohne Zukunft war. Das habe ich 1989 in dieser Tiefenschärfe nicht wahrgenommen. Menschen haben geackert, haben kluge Dinge erfunden, haben etwas geleistet, und es ist tagtäglich entwertet worden. Dieses System hat der großen Mehrheit der Menschen jede Perspektive, jede Entwicklungsmöglichkeit genommen. Ich möchte nie wieder in einer Gesellschaft leben, die nach vorn zu ist, die nicht offen ist, nicht gestaltbar.
SPIEGEL: Diese Erfahrung haben viele Ostdeutsche gemacht, und doch wird die DDR zunehmend verklärt.
Platzeck: Ganz vorsichtig! Man wird keine Gegend auf der Welt finden, die nicht auch verklärt wird von Menschen, die dort 40 Jahre lang gelebt haben. Das wird es in Afrika genauso wenig geben wie am Nordkap. Dort, wo man zu Hause war, wo man gelebt hat, wo man Kinder bekommen hat, gibt es Verklärungserscheinungen. Das ist völlig normal.
SPIEGEL: Geht Ihnen das auch so?
Platzeck: Natürlich, ich bin auch nicht frei von Nostalgie. Wenn ich einen alten "Polizeiruf" sehe, bleibe ich manchmal abends bei so einer Wiederholung hängen, und zwar nicht, weil ich die Krimi-Handlung spannend finde, sondern weil dort die Trabants durch die Straßen knattern, weil es noch authentisch DDR ist, weil die Blümchentapeten an den Wänden hängen, und weil jemand sagt: "Guten Morgen, Genosse Hauptmann!" Diese Erinnerung gönne ich mir dann und sage: Jawoll, so war's.
SPIEGEL: Ist für Sie, in der politischen Auseinandersetzung, noch entscheidend, was jemand in der DDR gemacht hat? Ob er Opfer oder Täter war?
Platzeck: Ich kenne nicht jeden, aber ich sehe unter den verantwortlichen Politikern im Osten niemanden mehr, auf den wirklich das Wort "Täter" zutreffen würde. Wir hatten ein paar Fälle Anfang der neunziger Jahre, wo bis zum Ministerpräsidenten Täter auch zurücktreten mussten, nachdem es öffentlich geworden war, aber über diese Phase sind wir hinaus.
SPIEGEL: Lassen Sie es uns anders fragen: Wie viele IM verträgt das brandenburgische Kabinett, wenn es im Herbst nach den Wahlen neu gebildet wird?
Platzeck: Wir kämpfen bei den Landtagswahlen im September für ein gutes SPD-Ergebnis und werden dann am Wahlabend sehen, welche Konstellationen möglich sind. Wir schließen keine Koalition aus ...
SPIEGEL: ... auch nicht mit der Linken, an deren Spitze in Brandenburg zwei gewissermaßen amtlich zertifizierte Stasi-Spitzel stehen?
Platzeck: Ich habe in den vergangenen 20 Jahren sehr viele unterschiedliche IM -Geschichten beurteilen müssen, und die ersten Fragen sind immer noch die gleichen: Ist jemandem geschadet worden? Wie waren die Bedingungen, unter denen die Betroffenen an die Stasi gekommen sind? Aber 20 Jahre danach muss bei der Beurteilung auch gelten: Hat der ehemalige IM Fehler erkannt und Konsequenzen gezogen? Oder verharmlost oder rechtfertigt er gar das Tun der Stasi? Bei IM kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen ...
SPIEGEL: ... aber der Umstand allein ist auch nicht mehr so wie früher ein automatischer Ausschlussgrund?
Platzeck: Es hat sich doch in den letzten 20 Jahren einiges verändert. Damals hatten wir es mit Menschen zu tun, die im besten Alter waren und oft viel Einfluss hatten. Wer heute Mitte 40 ist, war damals Mitte 20. Da verschiebt sich schon was. Der konnte kaum so gewirkt haben wie jemand, der damals schon 50 war.
SPIEGEL: Bedauern Sie es, dass heute nur noch sehr wenige Menschen mit Bürgerrechtserfahrung in der Politik sind?
Platzeck: Ich habe diese relativ zügellose Zeit Ende 1989, Anfang 1990 auch besonders genossen. Das war mit das Schönste, alles andere wäre gelogen. Diese Tippeltappeltour-Demokratie, die wir dann bekamen, ist zäh, schwierig und langwierig. Das habe ich auch lernen müssen, und trotzdem ist sie das Beste, was es gibt.
SPIEGEL: Für Ihre Bürgerrechts-Freunde war sie offenbar nichts.
Platzeck: Ja, viele sagten: Dafür sind wir nicht angetreten. Die Parteiendemokratie des Grundgesetzes war eben etwas grundlegend anderes als die damals eingeführte und von vielen auch geliebte basisdemokratische Variante der Runden Tische: Wir treffen uns alle mal und entscheiden dann gemeinsam. Damit sind viele nicht klargekommen. Und man muss auch nüchtern sagen, dass alles, was mit Macht- und Gestaltungsanspruch zu tun hat, ein relativ hartes Geschäft ist.
SPIEGEL: Helfen Ihnen diese Erfahrungen von damals heute noch?
Platzeck: Eines habe ich damals gelernt: Ich glaube nicht mehr so schnell irgendetwas. Ich glaube auch nicht mehr an die ganz großen Entwürfe und erhebenicht den Anspruch, Menschen von früh bis abends vollkommen glücklich machen zu wollen. Ich arbeite dafür, dass es möglichst konkret bleibt, dass möglichst viele Leute spüren, dass es Stück für Stück ein wenig besser wird. Wie viele Ostdeutsche habe ich die Erfahrung machen müssen, dass das Leben noch einmal eine komplett andere Richtung nehmen kann. Das stählt auch etwas für kommende Zeiten und Probleme.
SPIEGEL: Empfinden Sie Schadenfreude, dass nun in der Finanzkrise auch das Westsystem an die Grenzen stößt?
Platzeck: Nein, aber ich habe schon vor Jahren gesagt, dass wir nicht so tun sollten, als wäre alles ehern und unverrückbar. Vielleicht haben die aktuellen Schwierigkeiten auch etwas mit dem Untergang der DDR zu tun. Solange es den Gegensatz der Systeme gab, hatte die kapitalistische Seite - möglicherweise nur im Unterbewusstsein - das Bedürfnis, gezügelt vorzugehen. Man musste ja immer zeigen, dass man auch in der sozialen Akzeptanz das überlegene Gesellschaftssystem war. Es ist mein Gefühl, dass dieser Antrieb nach dem Fall der Mauer wegfiel und dass wir letztlich zu dem gekommen sind, was man heute "entfesselten Finanzkapitalismus" nennt.
SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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